BERLIN-MARZAHN: REISE IN MEINE KINDHEIT

Aus gegebenem Anlass, verbunden mit einer bundesweiten Kontaktsperre und weltweiten Reisesperren, möchte ich derzeit nicht in die Ferne schweifen. Doch eine Reise muss bekanntlich nicht immer weit sein… So führte mich eine meiner letzten Reisen* im vergangenen Winter an den Springpfuhl nach Marzahn, wo ich einen Teil meiner Kindheit verbracht habe. 22 Jahre hat es gebraucht, um dorthin zurückzukehren und mich auf meinen alten Schulweg zu begeben. Warum der Weg wieder einmal zum Ziel wurde und was mir beim Flanieren durch den Kopf ging, davon möchte ich euch erzählen …

Kaum habe ich den Tunnel am S-Bahnhof Springpfuhl verlassen, bleibt mein Blick an einem der drei gelb-orangenen Doppelhochhäuser kleben. Unverkennbar ragt der protzige Plattenbau am Helene-Weigel-Platz 7 empor: Rund 76 Meter misst er. Eins, zwei, drei… ich zähle neun Stockwerke. Dort muss sie gewesen sein, jene Wohnung, in der ich die ersten zwölf Jahre meines Lebens verbracht habe. Und wenn ich zurückblicke, dann ist es auch der längste Zeitraum, den ich überhaupt an einem Ort gelebt habe. Denn heute habe ich beruflich wie privat die Welt bereist, viele Jahre in Spanien, China, Namibia, Südafrika und Mexiko verbracht, in Städten wie Hongkong, Barcelona, Kapstadt, Nairobi, Istanbul und Buenos Aires gelebt. An den Springpfuhl in Marzahn bin ich kein einziges Mal zurückgekehrt. Nur warum eigentlich?

Blick auf den Springpfuhl vom Balkon der Platte meiner Kindheit: Helene-Weigel-Platz 7.

Einige Jahre nach der Wende haben wir Marzahn den Rücken gekehrt. Wir: Das sind meine Eltern und meine beiden älteren Schwestern. Damals ging es raus aus der Wohnung in der Platte – rein ins Eigenheim. Diesen Traum haben sich damals Viele erfüllt – zumindest jene, deren Geldbeutel das hergab. Sie alle wollten weg von der Platte. Dabei brachte mich mein Weggang geografisch nur neun Kilometer ums Eck. Doch gefühlt lagen Welten dazwischen: Den Ton an meiner neuen Schule empfand ich als sanfter, den Schulhof grüner. Womit ich erst viel später punkten konnte: dass einer meiner neuen Mitschüler Tim Bendzko hieß.

Ich laufe vorbei an Hochhaus Nummer 7, einer Wiese, dem Springpfuhl und der sich in Sanierung befindenden Schwimmhalle am Helene-Weigel-Platz. Der chlorige Geruch aus Kindertagen steigt in meine Nase: In der dritten Klasse kam ich zwei Mal die Woche zum Schwimmunterricht her. Nie konnte ich genug davon bekommen, in dem kleinen Becken nach Plastikringen zu tauchen. Nun biege ich links ab, gehe am Spielplatz vorbei. Ein junger Schwan watschelt an mir vorbei, den Blick zum Springpfuhl gewandt. „Der hat den Abflug gen Süden verpasst“, sagt ein älterer Herr im Vorbeigehen. Dem geht’s wie mir, denke ich still. Auch ich habe das letzte Jahrzehnt Winter und Frühjahr auf der südlichen Hemisphäre verbracht – nur in diesem Jahr nicht. Dafür stehe ich nun hier am Springpfuhl: Heimathafen meiner Kindheit. Und irgendwie fühlt sich auch das wie eine Reise an – eine Reise in meine Vergangenheit. Ich blicke zum Schwan. Der zieht gemächlichen Schrittes weiter zum Pfuhl. So setze auch ich den Weg meiner Kindertage fort …

1992 als Erweiterung der Fläche nach Osten angelegt: das Akazien-Wäldchen Springpfuhl.

Es geht durch das Akazien-Wäldchen: Diesen Abschnitt meines Schulwegs mochte ich immer besonders gern. Einzig an den Tagen, wenn sich die älteren Schüler hier in Gruppen verschanzten, um zu rauchen, knutschen oder zu pöbeln, zog ich schnellen Schrittes von dannen.

Nun wird der Blick auf die Wiese mit den Sandstein-Skulpturen frei. So zieht sich auch der restliche Weg entlang einer Grünfläche, umringt von den typisch grauen Plattenbauten. Schön ist anders, denke ich. Die Jahreszeit tut ihr übriges. Dennoch hat die Großsiedlung im Springpfuhlpark etwas Wohnliches. Die großflächige Parkanlage mit dem namensgebendem Gewässer, zahlreichen Wiesen, Bäumen und Wegen schafft den Ausgleich zur Enge der Platte. Der Blick kann schweifen, obwohl die Betonplatten ihn am Ende begrenzen. Doch es fühlt sich nicht an, als wäre man beengt – seiner Freiheit beraubt. „Zu DDR Zeiten war es etwas Besonderes hier zu wohnen. Wir waren froh am Springpfuhl eine Wohnung bekommen zu haben“, klingen mir die Worte meiner Mutter im Ohr. Attraktive Altbauwohnungen in der Stadt seien knapp gewesen und die vielen anderen nicht saniert – zumeist mit Ofenheizung. Eine Neubauwohnung am Springpfuhl habe damals als Komfort gegolten: mit Zentralheizung und Einbauküche sehr erstrebenswert für junge Familien. So kam es, dass ich in der größten Plattenbausiedlung auf dem seinerzeitigen Gebiet der DDR aufgewachsen bin.

Ich hingegen hätte damals gern in einem Altbau in Mitte gewohnt. Viermal die Woche fuhr ich Anfang der 90er Jahre, in Begleitung meiner Oma, zum Friedrichstadtpalast. Hier trainierte ich im Kinderballett. Ich beneidete die anderen Kinder, die aus der Umgebung und nicht aus dem entfernten Marzahn kamen. Beim Ballett hatte ich zwei Freundinnen, Jenny, ein zierliches, lustiges Mädchen mit vietnamesischen Wurzeln und die pummelige Claudine, Tochter einer Deutschen und eines Afrikaners.

Die Mitte Ostberlins. Heute ist nicht Berlin-Mitte die Mitte der Stadt – sondern Kreuzberg.

Ebenso wie beim Ballett gab es auch an meiner Schule zwei Schülerinnen mit Migrationshintergrund, wie es heute heißt. Algirmaa aus der Mongolei und Claudia, ein dunkelhäutiges Mädchen. Ich muss gestehen, ich weiß nur wenig über die beiden, bereits nach der zweiten Klasse verließen sie uns wieder. Allerdings erinnere ich mich an die Hänseleien, denen Claudia auf dem Schulhof ausgesetzt war. Einmal kam es zu einer Diskussion mit unserer Lehrerin, weil eine Mitschülerin Claudia als „Schokoneger“ bezeichnet hatte. Diese Beschimpfungen waren nicht selten. Mir riefen ältere Schüler auf dem Nachhauseweg „Fidschi“ nach – wenn ich lache, sehe ich ein bisschen aus wie das, was man heute ein Grinse-Emoji nennt. Oder bekomme „Schlitzaugen“, wie es meine Freundinnen damals „liebevoll“ sagten.

Mein Schulweg nähert sich dem Ende: In der Ferne sehe ich den großen Sportplatz. Links müsste meine alte Schule „Unter dem Regenbogen“ stehen – doch das einzige, was ich sehe, ist ein Supermarkt. Ich laufe über den Parkplatz und erkenne deutlich meine Sporthalle: Ihre besten Tage hat sie hinter sich gelassen! Doch ich erinnere mich als wäre es gestern, wie wir einst mit unseren Turnbeuteln vor der schweren Tür gewartet haben, um über den Bock zu springen, die Stangen hoch zu klettern. Dahinter nehme ich einen blauen Flachbau wahr, eine Billardbar: Ist das nicht unser ehemaliger „Essenswürfel“? Jetzt hat mich die Erinnerung gepackt. Unsere Schulfeiern waren im Würfel immer besonders schön – ein Hauch von Konfetti, Musik und Gelächter schwirrt blitzartig in meinem Kopf herum …

Doch was ist mit meiner alten Schule passiert?

Der Gedanke lässt mich nicht mehr los. Als ich am Abend nach Hause komme, recherchiere ich: Die „29. Grundschule Marzahn – Grundschule unter dem Regenbogen“ – es gibt sie doch noch. Nur 500 Meter weiter. Noch in den 90er Jahren ist sie in eine Gesamtschule umgezogen, die nicht mehr benötigt wurde. Geblieben ist Frau Knoppick, Christiane Knoppick, die Schulleiterin schon zu meiner Zeit. Und so schließt sich der Kreis: Plötzlich scheint meine Kindheit am Springpfuhl gar nicht mehr so fern zu sein. Ich frage mich, warum ich mehr als zwei Jahrzehnte gebraucht habe, um an den Ort meiner Kindheit zurückzukehren?

Meine alte Turnhalle. Foto: F.H.

Klar: Nicht alles war immer rosig, der Ton manchmal rau, auch unter Kindern. Doch in der Platte gab es immer Freunde zum Spielen, der Blick aus dem 24. Stock der Wohnung meiner Freundin war grandios, die Filmnachmittage im Kino Sojus legendär. Am Ende war meine Kindheit unbeschwert, während der Ruf Marzahns, die verpönte Platte meine Jugend durchaus geprägt haben. Auch mir wurde dieses Bild auferlegt. Zumindest ein bisschen. Vielleicht wollte ich deshalb so lange nicht zurück an diesen Ort, habe 22 Jahre dafür gebraucht. Einer Sache bin ich mir nun aber sicher: Zwei Jahrzehnte wird es diesmal nicht brauchen, bis ich mich wieder an den Springpfuhl begebe …

Last but not least: Das Haus meiner Kindheit hat heute einen Wikipedia-Eintrag, als Ökologie-Doppelhochhaus mit Photovoltaikanlage. Hut ab!

Bis dahin! Bleibt gesund und zu Hause. Eure Antje

Doppelhochhaus: Das Haus meiner Kindheit ist heute ein Ökologiedoppelhochhaus im Berliner Ortsteil Marzahn des Bezirks Marzahn-Hellersdorf.

Mein Lesetipp für all jene, die noch ein wenig mehr Marzahn möchten: „Marzahn, mon amour: Geschichten einer Fußpflegerin“ von Katja Oskamp, Hanser Berlin.

*//Hinweis: Dieser Text ist in gekürzter Fassung bereits im Newsletter des Tagesspiegel für Marzahn-Hellersdorf erschienen. //*


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